Montag, 24. August 2020
Walking am Tag oder "Scheiss Sport"
Zu Hause ist nichts zu holen in diesen Stunden. Ich bin zu früh wach, habe schlecht geschlafen und der Kaffeerest sorgt endlich für Wachheit, gleichzeitig aber auch für Unruhe.
In den sozialen Netzwerken bin ich auf dem neuesten Stand, viel gibt es nicht zu sehen mangels zahlreichen Kontakten. Die Unruhe wird stärker und droht in Langeweile umzukippen. Kurzerhand befestige ich mein Fitnessarmband am Handgelenk und trete unrasiert und ungewaschen vor meine Wohnungstür. Sich vor einer Walking-Einheit zu duschen wäre auch wirklich albern, außerdem sang schon die Punkband Hausvabot so treffend, dass nur die wenigsten Leute in diesem Irrenhaus von Gesellschaft es verdient hätten, mich gepflegt zu erleben.

Der Fahrstuhl hält und ist vollgefropft mit einer Kindermeute nebst dazugehörenden Erwachsenen. „Ich nehme den nächsten!“ rufe ich hinter meinem Handy hervor und mache damit ihre Versuche zunichte, mich in diesem Kneuel von Menschen auch noch unterbringen zu wollen. Der gegenüberliegende Fahrstuhl ist dann leer, ich komme aber nur eine Etage weit. Meine ehemalige Nachbarin steigt ein, die nach dem Tod ihres Mannes in eine kleinere Wohnung gezogen ist. Ihr ist wohl heute nicht nach Smalltalk, sie dreht mir den Rücken zu und ich versuche wieder heraus zu finden, warum sich meine altgediente Fitness-App neuerdings ständig selbst beendet. Unten angekommen bedanke ich mich artig für das fürsorgliche Aufhalten der beiden Haustüren und werde von der Sonne und einem leichten Wind empfangen.

Musik im Handy starten, ein kleiner Druck aufs Fitnessarmband, damit es weiß das ich nicht nur sinnlos in der Gegend rumeiere, sondern ernsthaft Sport betreibe und ich setze meinen schweren Körper in Bewegung. Vor der Sparkasse steht ein Typ wie ich, Proll mit Bierbauch und schaut böse. Einen geeigneteren Platz als vor einer Bankfiliale, noch dazu am Monatsende in dieser Gegend, böse zu gucken, fällt mir auch nicht ein und ich gehe weiter. Bald habe ich meinen Rhythmus gefunden und ich klopfe mir innerlich auf die Schulter, weil ich so ein eifriger Sportler bin. Natürlich sieht mir das mit meiner verschlissenen Jeans und meinem faltigen Freizeithemd niemand an, aber das ist ja auch das schöne am Walken, man kann ganz inkognito Sport treiben.

Im Stadion in der Hauptstraße scheint irgendwas los zu sein, ich sehe schon von weitem einige Leute dahin gehen. Soll mich nicht berühren, ich laufe konzentriert weiter geradeaus. Dabei hasse ich es wenn Menschen meinen Weg kreuzen, zum Beispiel vor mir auf den Gehweg treten, weil ich sie dann überholen muss. So auch ein Ehepaar mit einem schon fast erwachsenem Sohn meiner Größe, der aber noch deutlich mehr Gewicht auf die Waage bringt. Ich stelle mir kurz vor wie ich den Sohn frage, ob er nicht mit mir zusammen walken will und wir nach Monaten hartem Trainings dann die neuen Fitnessstars bei Instagram sind. Aber die drei laufen recht schnell und biegen dann in einen Friedhof ein. Klar, Sonntag, da besucht man schon mal verflossene Familienmitglieder. Ich finde es toll das der Sohn da mitgenommen wird, es scheint also noch recht funktionierende Familien zu geben. Schritt für Schritt gehe ich weiter.

Dann die Schicksalskreuzung, an der ich je nach Fitnesslevel und -gefühl wieder umkehre oder geradeaus noch drei extra Kilometer mache. Ich entscheide mich fürs weitergehen, ich bin heute fit. Am Ende der Kreuzung befindet sich eine zwielichtige Bar und zwei Typen mit Bier in der Hand, die sehr nach Speed aussehen, stehen davor. Ich trinke ja nun auch gern, würde aber erstens nie Berliner Kindl, das Bier der Prolls, sondern Berliner Pilsener und zweitens nie in der Öffentlichkeit vor einer Kneipe trinken. Wegbier in der Straßenbahn oder Gelage auf der Parkbank, klar, schon oft praktiziert. Aber vor einer Bar? Liegt vielleicht auch daran das mir aufgrund von langjähriger Armut Kneipen und Bars generell suspekt geworden sind. Dankenswerterweise kümmern sich die beiden nicht um mich, solche Typen quatschen einen gerne mal voll, besonders wenn die Nase weiss ist.

Es begegnet mir noch ein migrantisches Pärchen, der Mann läuft voraus, die Kopftuch-Frau mit Kinderwagen ein paar Meter hinterher, zwei kleine Kinder noch zwischendrin. Weder sind sie von mir beeindruckt noch ich von ihnen, man geht halt spazieren. Dann komme ich bei der zweiten Kreuzung , meinem endgültigen Wendepunkt, an. Ich laufe an einem McDonalds vorbei und erinnere mich, wie ich dort mit Kumpels in jungen Jahren zehn Minuten brauchte, um in meinem vollgekifften Hirn zu kapieren, das man bei McDonalds keine BurgerKing-Burger bekommt. Auf der Mittelinsel der Kreuzung dann eine Joggerin, die aufgrund der roten Fußgängerampel eindringlich ihre Erschöpfung zur Schau stellt und sich Luft verschafft. Ich überlege kurz ob ich etwas anerkennendes sage. „Ich mache auch grad Sport, bin aber noch nicht so fit wie Sie!“, oder so. Ich verkneife es mir und mache mich auf den Rückweg. Verdammt, ich vermisse die Kilometer-Ansagen der Fitness-App, auch ist sie genauer als mein Armband, was wiedermal fast einen Kilometer in der Zusammenfassung unterschlagen soll. Aber es ist wie es ist, ich muss mich mit dem Hardrock aus den Kopfhörern begnügen. Ich treffe das migrantische Pärchen auf dem Rückweg wieder, wir sind immernoch völlig unbeeindruckt voneinander. Ich bin aber zunehmend mit mir und meiner Erschöpfung beschäftigt und nehme meine Umwelt nicht mehr sehr bewusst wahr. Weder der restliche Rückweg noch das Hochhaus mit Fahrstuhl halten dann noch irgendwelche Überraschungen bereit, ich bin froh das mich so verschwitzt und sicher stinkend niemand sieht. Schnell noch mit dem etwas ungenauen Messergebnis meines Fitnessarmbands auf Facebook angeben, dann habe ich mir ein Glas Wasser und die erlösende Dusche wirklich verdient. Scheiss Sport.

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