Montag, 24. August 2020
mein Haupthaar und ich
Die Geschichte meines Haupthaares ist eine wechselvolle. Soweit ich mich erinnere, schickte mich meine Erzeugerin als kleines Kind immer allein in einen dieser typischen DDR-Dienstleistungswürfel zum Friseur. Sie verbrachte zwar nicht gerne Zeit mit mir, war aber immer äußerst besorgt um die Außenwirkung unserer durch und durch dysfunktionalen Familie. Doch eines Tages muss eine besonders schlechte Auszubildende Hand an mich gelegt haben, stolz erzählte ich meiner biologischen Betreuerin das die Leute dort nicht mal Geld von mir verlangt hätten, aber die Frau, die in einem anderem Leben meine Mutter wäre, war außer sich. Fortan kümmerte sie sich selbst um meine Haare, was sollten denn auch die Leute denken!

So begab es sich, dass meine Ausbrüterin eines Tages vergaß den Aufsatz auf die Maschine zu stecken und ratsch, ein Streifen nackter Kopfhaut meines Hinterkopfes war geboren. Ich kann mir vorstellen, dass sie im Kopf schon Entschuldigungen für die Schule verfasste, weshalb ich einen Monat nicht mehr zur realsozialistischen Persönlichkeit durch körperliche Abwesenheit erzogen werden konnte. Auf meine Bitte, mir den ganzen Kopf kahl zu scheren, ging sie nicht ein, schickte mich aber trotzdem weiter zur Lehranstalt.
Ich war der King in der Pause! Alle staunten über den frechen Streifen, viele befühlten die kahlgeschorene Haut anerkennend. Auch manche Lehrer, man hatte in der DDR zu meiner Zeit noch ein engeres Verhältnis zu seinen Lehrern, meinten mich etwas trösten zu müssen. Ich war jedenfalls kurz im Gespräch. Naturgemäß verwuchs sich die Sache und meine weitere Kindheit ist, was mein Haupthaar betrifft, nicht weiter erwähnenswert.

Ich fing meine Lehre als Spielwaren-Kaufmann an, was einzig meiner Faulheit und der geringen Distanz zur Arbeitsstelle geschuldet war, und sah ordentlich und spießig aus. Mittelscheitel und Fassonschnitt, ich musste ja in der Arbeitswelt ankommen.
Doch ich hatte schon länger eine Vorliebe für Metal und Punkmusik entwickelt, auch kotzten mich die erwachsenen DDR-Spießer auf der einen und das überall in Ost-Berlin präsente Proll-Nazi-Pack auf der anderen Seite tierisch an. Ich hasste es auch zum Friseur zu gehen, was übrigens heute noch so ist. Also ließ ich einfach wachsen, bis meine nahe Verwandte und damals noch Mitbewohnerin mich vor die Wahl stellte, mir entweder einen Zopf zu binden oder einen Profi mit der Kürzung der rotblonden Pracht zu beauftragen. Sicher fanden meine damaligen Kolleginnen und Vorgesetzten meine Verwandlung auch nicht sehr prickelnd, aber ich bekam damals deshalb keinen Ärger.

So ging ich von nun an langhaarig und bezopft durchs Leben, was durchaus in der heute Baseballschläger-Jahre genannten Zeit recht gefährlich war in Ost-Berlin. Da ich mich dazu noch punkig anzog bekam ich ab und zu auf die Fresse, noch heute zieren zwei kleine Narben meinen Schädel, als mich ein Nazi mit einem BVG-Nothammer, der eigentlich zum S-Bahn-Scheiben zerschlagen gedacht war, umbringen wollte. Beschimpfungen waren sowieso an der Tagesordnung. Aber mein langes Haar war Rebellion und Statement, ich war anders als das ganze elende Pack um mich herum. Es war eine fantastische Zeit in Punkkneipen, auf Demos und Konzerten!

Ich überstand meine Lehre und kurze Zeit darauf musste ich zur Bundeswehr. Meine Erziehungsberechtigten hatten mich überzeugt, das Che Guevara ja auch schiessen konnte, weswegen ich den Bundeswehrdienst nicht verweigert hatte, obwohl ich damals hoch politisch war. Ich bin mir sicher sie hofften, das Militär würde mich auf ihren rechtschaffenen Weg der drögen Spießigkeit führen, der so typisch ist für den besonders ekelerregenden Typus des DDR-Spießers. Sie konnten nicht falscher liegen, aber auch im Interesse einer überbrückenden Arbeitsstelle gingen die langen Haare flöten.

Bei der Bundeswehr dann trug man natürlich kurz, aber nicht zu kurz, bei uns zumindest achtete man darauf, nicht auch einen der damals zahlreichen Neonazi-Bundeswehr-Skandale zu produzieren. Einmal bekamen meine Kameraden und ich Ärger, weil wir uns vom Standort-Friseur zu kurz beschneiden ließen.
Zwischendurch wurde meinen Mitbewohnern meine Renitenz zuviel und sie schmissen mich aus der kindheitlichen Folterkammer, was ich nicht sehr bedauerte.

Nach dem Militär arbeitete ich im gehobenen Einzelhandel, sah also wieder adrett aus. Aufgrund zunehmender psychischer Schieflagen verlor ich die Stelle aber nach einem Jahr. Da ich immernoch durch und durch punkig eingestellt war, bat ich eine Freundin eines Tages mir einen Iro zu schneiden. Kurze Zeit später stellte ich aber fest, dass eine Glatze deutlich pflegeleichter war. Später in der Psychiatrie dann, die ich einige Jahre regelmäßig aufsuchte, war es mir ein Ritual geworden, mir wenn es mir besser ging eine Glatze zu schneiden, um mich sozusagen wieder mit dem Leben anzulegen. Ich habe mal gehört, viele junge Patienten in der Psychiatrie machen das heute noch.

Und so trimme ich mein Haar immernoch recht regelmäßig, die Liebe zu Punkmusik, vor allem zu Oi! ist geblieben, aber es ist auch am einfachsten, einmal im Monat oder öfter mit der Maschine über den Kopf zu gehen. Vielleicht, eines Tages, nimmt die Geschichte meines Haupthaares auch wieder eine andere Wendung.

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