... newer stories
Montag, 24. August 2020
mein Haupthaar und ich
plattenpowler, 18:27h
Die Geschichte meines Haupthaares ist eine wechselvolle. Soweit ich mich erinnere, schickte mich meine Erzeugerin als kleines Kind immer allein in einen dieser typischen DDR-Dienstleistungswürfel zum Friseur. Sie verbrachte zwar nicht gerne Zeit mit mir, war aber immer äußerst besorgt um die Außenwirkung unserer durch und durch dysfunktionalen Familie. Doch eines Tages muss eine besonders schlechte Auszubildende Hand an mich gelegt haben, stolz erzählte ich meiner biologischen Betreuerin das die Leute dort nicht mal Geld von mir verlangt hätten, aber die Frau, die in einem anderem Leben meine Mutter wäre, war außer sich. Fortan kümmerte sie sich selbst um meine Haare, was sollten denn auch die Leute denken!
So begab es sich, dass meine Ausbrüterin eines Tages vergaß den Aufsatz auf die Maschine zu stecken und ratsch, ein Streifen nackter Kopfhaut meines Hinterkopfes war geboren. Ich kann mir vorstellen, dass sie im Kopf schon Entschuldigungen für die Schule verfasste, weshalb ich einen Monat nicht mehr zur realsozialistischen Persönlichkeit durch körperliche Abwesenheit erzogen werden konnte. Auf meine Bitte, mir den ganzen Kopf kahl zu scheren, ging sie nicht ein, schickte mich aber trotzdem weiter zur Lehranstalt.
Ich war der King in der Pause! Alle staunten über den frechen Streifen, viele befühlten die kahlgeschorene Haut anerkennend. Auch manche Lehrer, man hatte in der DDR zu meiner Zeit noch ein engeres Verhältnis zu seinen Lehrern, meinten mich etwas trösten zu müssen. Ich war jedenfalls kurz im Gespräch. Naturgemäß verwuchs sich die Sache und meine weitere Kindheit ist, was mein Haupthaar betrifft, nicht weiter erwähnenswert.
Ich fing meine Lehre als Spielwaren-Kaufmann an, was einzig meiner Faulheit und der geringen Distanz zur Arbeitsstelle geschuldet war, und sah ordentlich und spießig aus. Mittelscheitel und Fassonschnitt, ich musste ja in der Arbeitswelt ankommen.
Doch ich hatte schon länger eine Vorliebe für Metal und Punkmusik entwickelt, auch kotzten mich die erwachsenen DDR-Spießer auf der einen und das überall in Ost-Berlin präsente Proll-Nazi-Pack auf der anderen Seite tierisch an. Ich hasste es auch zum Friseur zu gehen, was übrigens heute noch so ist. Also ließ ich einfach wachsen, bis meine nahe Verwandte und damals noch Mitbewohnerin mich vor die Wahl stellte, mir entweder einen Zopf zu binden oder einen Profi mit der Kürzung der rotblonden Pracht zu beauftragen. Sicher fanden meine damaligen Kolleginnen und Vorgesetzten meine Verwandlung auch nicht sehr prickelnd, aber ich bekam damals deshalb keinen Ärger.
So ging ich von nun an langhaarig und bezopft durchs Leben, was durchaus in der heute Baseballschläger-Jahre genannten Zeit recht gefährlich war in Ost-Berlin. Da ich mich dazu noch punkig anzog bekam ich ab und zu auf die Fresse, noch heute zieren zwei kleine Narben meinen Schädel, als mich ein Nazi mit einem BVG-Nothammer, der eigentlich zum S-Bahn-Scheiben zerschlagen gedacht war, umbringen wollte. Beschimpfungen waren sowieso an der Tagesordnung. Aber mein langes Haar war Rebellion und Statement, ich war anders als das ganze elende Pack um mich herum. Es war eine fantastische Zeit in Punkkneipen, auf Demos und Konzerten!
Ich überstand meine Lehre und kurze Zeit darauf musste ich zur Bundeswehr. Meine Erziehungsberechtigten hatten mich überzeugt, das Che Guevara ja auch schiessen konnte, weswegen ich den Bundeswehrdienst nicht verweigert hatte, obwohl ich damals hoch politisch war. Ich bin mir sicher sie hofften, das Militär würde mich auf ihren rechtschaffenen Weg der drögen Spießigkeit führen, der so typisch ist für den besonders ekelerregenden Typus des DDR-Spießers. Sie konnten nicht falscher liegen, aber auch im Interesse einer überbrückenden Arbeitsstelle gingen die langen Haare flöten.
Bei der Bundeswehr dann trug man natürlich kurz, aber nicht zu kurz, bei uns zumindest achtete man darauf, nicht auch einen der damals zahlreichen Neonazi-Bundeswehr-Skandale zu produzieren. Einmal bekamen meine Kameraden und ich Ärger, weil wir uns vom Standort-Friseur zu kurz beschneiden ließen.
Zwischendurch wurde meinen Mitbewohnern meine Renitenz zuviel und sie schmissen mich aus der kindheitlichen Folterkammer, was ich nicht sehr bedauerte.
Nach dem Militär arbeitete ich im gehobenen Einzelhandel, sah also wieder adrett aus. Aufgrund zunehmender psychischer Schieflagen verlor ich die Stelle aber nach einem Jahr. Da ich immernoch durch und durch punkig eingestellt war, bat ich eine Freundin eines Tages mir einen Iro zu schneiden. Kurze Zeit später stellte ich aber fest, dass eine Glatze deutlich pflegeleichter war. Später in der Psychiatrie dann, die ich einige Jahre regelmäßig aufsuchte, war es mir ein Ritual geworden, mir wenn es mir besser ging eine Glatze zu schneiden, um mich sozusagen wieder mit dem Leben anzulegen. Ich habe mal gehört, viele junge Patienten in der Psychiatrie machen das heute noch.
Und so trimme ich mein Haar immernoch recht regelmäßig, die Liebe zu Punkmusik, vor allem zu Oi! ist geblieben, aber es ist auch am einfachsten, einmal im Monat oder öfter mit der Maschine über den Kopf zu gehen. Vielleicht, eines Tages, nimmt die Geschichte meines Haupthaares auch wieder eine andere Wendung.
So begab es sich, dass meine Ausbrüterin eines Tages vergaß den Aufsatz auf die Maschine zu stecken und ratsch, ein Streifen nackter Kopfhaut meines Hinterkopfes war geboren. Ich kann mir vorstellen, dass sie im Kopf schon Entschuldigungen für die Schule verfasste, weshalb ich einen Monat nicht mehr zur realsozialistischen Persönlichkeit durch körperliche Abwesenheit erzogen werden konnte. Auf meine Bitte, mir den ganzen Kopf kahl zu scheren, ging sie nicht ein, schickte mich aber trotzdem weiter zur Lehranstalt.
Ich war der King in der Pause! Alle staunten über den frechen Streifen, viele befühlten die kahlgeschorene Haut anerkennend. Auch manche Lehrer, man hatte in der DDR zu meiner Zeit noch ein engeres Verhältnis zu seinen Lehrern, meinten mich etwas trösten zu müssen. Ich war jedenfalls kurz im Gespräch. Naturgemäß verwuchs sich die Sache und meine weitere Kindheit ist, was mein Haupthaar betrifft, nicht weiter erwähnenswert.
Ich fing meine Lehre als Spielwaren-Kaufmann an, was einzig meiner Faulheit und der geringen Distanz zur Arbeitsstelle geschuldet war, und sah ordentlich und spießig aus. Mittelscheitel und Fassonschnitt, ich musste ja in der Arbeitswelt ankommen.
Doch ich hatte schon länger eine Vorliebe für Metal und Punkmusik entwickelt, auch kotzten mich die erwachsenen DDR-Spießer auf der einen und das überall in Ost-Berlin präsente Proll-Nazi-Pack auf der anderen Seite tierisch an. Ich hasste es auch zum Friseur zu gehen, was übrigens heute noch so ist. Also ließ ich einfach wachsen, bis meine nahe Verwandte und damals noch Mitbewohnerin mich vor die Wahl stellte, mir entweder einen Zopf zu binden oder einen Profi mit der Kürzung der rotblonden Pracht zu beauftragen. Sicher fanden meine damaligen Kolleginnen und Vorgesetzten meine Verwandlung auch nicht sehr prickelnd, aber ich bekam damals deshalb keinen Ärger.
So ging ich von nun an langhaarig und bezopft durchs Leben, was durchaus in der heute Baseballschläger-Jahre genannten Zeit recht gefährlich war in Ost-Berlin. Da ich mich dazu noch punkig anzog bekam ich ab und zu auf die Fresse, noch heute zieren zwei kleine Narben meinen Schädel, als mich ein Nazi mit einem BVG-Nothammer, der eigentlich zum S-Bahn-Scheiben zerschlagen gedacht war, umbringen wollte. Beschimpfungen waren sowieso an der Tagesordnung. Aber mein langes Haar war Rebellion und Statement, ich war anders als das ganze elende Pack um mich herum. Es war eine fantastische Zeit in Punkkneipen, auf Demos und Konzerten!
Ich überstand meine Lehre und kurze Zeit darauf musste ich zur Bundeswehr. Meine Erziehungsberechtigten hatten mich überzeugt, das Che Guevara ja auch schiessen konnte, weswegen ich den Bundeswehrdienst nicht verweigert hatte, obwohl ich damals hoch politisch war. Ich bin mir sicher sie hofften, das Militär würde mich auf ihren rechtschaffenen Weg der drögen Spießigkeit führen, der so typisch ist für den besonders ekelerregenden Typus des DDR-Spießers. Sie konnten nicht falscher liegen, aber auch im Interesse einer überbrückenden Arbeitsstelle gingen die langen Haare flöten.
Bei der Bundeswehr dann trug man natürlich kurz, aber nicht zu kurz, bei uns zumindest achtete man darauf, nicht auch einen der damals zahlreichen Neonazi-Bundeswehr-Skandale zu produzieren. Einmal bekamen meine Kameraden und ich Ärger, weil wir uns vom Standort-Friseur zu kurz beschneiden ließen.
Zwischendurch wurde meinen Mitbewohnern meine Renitenz zuviel und sie schmissen mich aus der kindheitlichen Folterkammer, was ich nicht sehr bedauerte.
Nach dem Militär arbeitete ich im gehobenen Einzelhandel, sah also wieder adrett aus. Aufgrund zunehmender psychischer Schieflagen verlor ich die Stelle aber nach einem Jahr. Da ich immernoch durch und durch punkig eingestellt war, bat ich eine Freundin eines Tages mir einen Iro zu schneiden. Kurze Zeit später stellte ich aber fest, dass eine Glatze deutlich pflegeleichter war. Später in der Psychiatrie dann, die ich einige Jahre regelmäßig aufsuchte, war es mir ein Ritual geworden, mir wenn es mir besser ging eine Glatze zu schneiden, um mich sozusagen wieder mit dem Leben anzulegen. Ich habe mal gehört, viele junge Patienten in der Psychiatrie machen das heute noch.
Und so trimme ich mein Haar immernoch recht regelmäßig, die Liebe zu Punkmusik, vor allem zu Oi! ist geblieben, aber es ist auch am einfachsten, einmal im Monat oder öfter mit der Maschine über den Kopf zu gehen. Vielleicht, eines Tages, nimmt die Geschichte meines Haupthaares auch wieder eine andere Wendung.
... link (0 Kommentare) ... comment
Walking am Tag oder "Scheiss Sport"
plattenpowler, 14:44h
Zu Hause ist nichts zu holen in diesen Stunden. Ich bin zu früh wach, habe schlecht geschlafen und der Kaffeerest sorgt endlich für Wachheit, gleichzeitig aber auch für Unruhe.
In den sozialen Netzwerken bin ich auf dem neuesten Stand, viel gibt es nicht zu sehen mangels zahlreichen Kontakten. Die Unruhe wird stärker und droht in Langeweile umzukippen. Kurzerhand befestige ich mein Fitnessarmband am Handgelenk und trete unrasiert und ungewaschen vor meine Wohnungstür. Sich vor einer Walking-Einheit zu duschen wäre auch wirklich albern, außerdem sang schon die Punkband Hausvabot so treffend, dass nur die wenigsten Leute in diesem Irrenhaus von Gesellschaft es verdient hätten, mich gepflegt zu erleben.
Der Fahrstuhl hält und ist vollgefropft mit einer Kindermeute nebst dazugehörenden Erwachsenen. „Ich nehme den nächsten!“ rufe ich hinter meinem Handy hervor und mache damit ihre Versuche zunichte, mich in diesem Kneuel von Menschen auch noch unterbringen zu wollen. Der gegenüberliegende Fahrstuhl ist dann leer, ich komme aber nur eine Etage weit. Meine ehemalige Nachbarin steigt ein, die nach dem Tod ihres Mannes in eine kleinere Wohnung gezogen ist. Ihr ist wohl heute nicht nach Smalltalk, sie dreht mir den Rücken zu und ich versuche wieder heraus zu finden, warum sich meine altgediente Fitness-App neuerdings ständig selbst beendet. Unten angekommen bedanke ich mich artig für das fürsorgliche Aufhalten der beiden Haustüren und werde von der Sonne und einem leichten Wind empfangen.
Musik im Handy starten, ein kleiner Druck aufs Fitnessarmband, damit es weiß das ich nicht nur sinnlos in der Gegend rumeiere, sondern ernsthaft Sport betreibe und ich setze meinen schweren Körper in Bewegung. Vor der Sparkasse steht ein Typ wie ich, Proll mit Bierbauch und schaut böse. Einen geeigneteren Platz als vor einer Bankfiliale, noch dazu am Monatsende in dieser Gegend, böse zu gucken, fällt mir auch nicht ein und ich gehe weiter. Bald habe ich meinen Rhythmus gefunden und ich klopfe mir innerlich auf die Schulter, weil ich so ein eifriger Sportler bin. Natürlich sieht mir das mit meiner verschlissenen Jeans und meinem faltigen Freizeithemd niemand an, aber das ist ja auch das schöne am Walken, man kann ganz inkognito Sport treiben.
Im Stadion in der Hauptstraße scheint irgendwas los zu sein, ich sehe schon von weitem einige Leute dahin gehen. Soll mich nicht berühren, ich laufe konzentriert weiter geradeaus. Dabei hasse ich es wenn Menschen meinen Weg kreuzen, zum Beispiel vor mir auf den Gehweg treten, weil ich sie dann überholen muss. So auch ein Ehepaar mit einem schon fast erwachsenem Sohn meiner Größe, der aber noch deutlich mehr Gewicht auf die Waage bringt. Ich stelle mir kurz vor wie ich den Sohn frage, ob er nicht mit mir zusammen walken will und wir nach Monaten hartem Trainings dann die neuen Fitnessstars bei Instagram sind. Aber die drei laufen recht schnell und biegen dann in einen Friedhof ein. Klar, Sonntag, da besucht man schon mal verflossene Familienmitglieder. Ich finde es toll das der Sohn da mitgenommen wird, es scheint also noch recht funktionierende Familien zu geben. Schritt für Schritt gehe ich weiter.
Dann die Schicksalskreuzung, an der ich je nach Fitnesslevel und -gefühl wieder umkehre oder geradeaus noch drei extra Kilometer mache. Ich entscheide mich fürs weitergehen, ich bin heute fit. Am Ende der Kreuzung befindet sich eine zwielichtige Bar und zwei Typen mit Bier in der Hand, die sehr nach Speed aussehen, stehen davor. Ich trinke ja nun auch gern, würde aber erstens nie Berliner Kindl, das Bier der Prolls, sondern Berliner Pilsener und zweitens nie in der Öffentlichkeit vor einer Kneipe trinken. Wegbier in der Straßenbahn oder Gelage auf der Parkbank, klar, schon oft praktiziert. Aber vor einer Bar? Liegt vielleicht auch daran das mir aufgrund von langjähriger Armut Kneipen und Bars generell suspekt geworden sind. Dankenswerterweise kümmern sich die beiden nicht um mich, solche Typen quatschen einen gerne mal voll, besonders wenn die Nase weiss ist.
Es begegnet mir noch ein migrantisches Pärchen, der Mann läuft voraus, die Kopftuch-Frau mit Kinderwagen ein paar Meter hinterher, zwei kleine Kinder noch zwischendrin. Weder sind sie von mir beeindruckt noch ich von ihnen, man geht halt spazieren. Dann komme ich bei der zweiten Kreuzung , meinem endgültigen Wendepunkt, an. Ich laufe an einem McDonalds vorbei und erinnere mich, wie ich dort mit Kumpels in jungen Jahren zehn Minuten brauchte, um in meinem vollgekifften Hirn zu kapieren, das man bei McDonalds keine BurgerKing-Burger bekommt. Auf der Mittelinsel der Kreuzung dann eine Joggerin, die aufgrund der roten Fußgängerampel eindringlich ihre Erschöpfung zur Schau stellt und sich Luft verschafft. Ich überlege kurz ob ich etwas anerkennendes sage. „Ich mache auch grad Sport, bin aber noch nicht so fit wie Sie!“, oder so. Ich verkneife es mir und mache mich auf den Rückweg. Verdammt, ich vermisse die Kilometer-Ansagen der Fitness-App, auch ist sie genauer als mein Armband, was wiedermal fast einen Kilometer in der Zusammenfassung unterschlagen soll. Aber es ist wie es ist, ich muss mich mit dem Hardrock aus den Kopfhörern begnügen. Ich treffe das migrantische Pärchen auf dem Rückweg wieder, wir sind immernoch völlig unbeeindruckt voneinander. Ich bin aber zunehmend mit mir und meiner Erschöpfung beschäftigt und nehme meine Umwelt nicht mehr sehr bewusst wahr. Weder der restliche Rückweg noch das Hochhaus mit Fahrstuhl halten dann noch irgendwelche Überraschungen bereit, ich bin froh das mich so verschwitzt und sicher stinkend niemand sieht. Schnell noch mit dem etwas ungenauen Messergebnis meines Fitnessarmbands auf Facebook angeben, dann habe ich mir ein Glas Wasser und die erlösende Dusche wirklich verdient. Scheiss Sport.
In den sozialen Netzwerken bin ich auf dem neuesten Stand, viel gibt es nicht zu sehen mangels zahlreichen Kontakten. Die Unruhe wird stärker und droht in Langeweile umzukippen. Kurzerhand befestige ich mein Fitnessarmband am Handgelenk und trete unrasiert und ungewaschen vor meine Wohnungstür. Sich vor einer Walking-Einheit zu duschen wäre auch wirklich albern, außerdem sang schon die Punkband Hausvabot so treffend, dass nur die wenigsten Leute in diesem Irrenhaus von Gesellschaft es verdient hätten, mich gepflegt zu erleben.
Der Fahrstuhl hält und ist vollgefropft mit einer Kindermeute nebst dazugehörenden Erwachsenen. „Ich nehme den nächsten!“ rufe ich hinter meinem Handy hervor und mache damit ihre Versuche zunichte, mich in diesem Kneuel von Menschen auch noch unterbringen zu wollen. Der gegenüberliegende Fahrstuhl ist dann leer, ich komme aber nur eine Etage weit. Meine ehemalige Nachbarin steigt ein, die nach dem Tod ihres Mannes in eine kleinere Wohnung gezogen ist. Ihr ist wohl heute nicht nach Smalltalk, sie dreht mir den Rücken zu und ich versuche wieder heraus zu finden, warum sich meine altgediente Fitness-App neuerdings ständig selbst beendet. Unten angekommen bedanke ich mich artig für das fürsorgliche Aufhalten der beiden Haustüren und werde von der Sonne und einem leichten Wind empfangen.
Musik im Handy starten, ein kleiner Druck aufs Fitnessarmband, damit es weiß das ich nicht nur sinnlos in der Gegend rumeiere, sondern ernsthaft Sport betreibe und ich setze meinen schweren Körper in Bewegung. Vor der Sparkasse steht ein Typ wie ich, Proll mit Bierbauch und schaut böse. Einen geeigneteren Platz als vor einer Bankfiliale, noch dazu am Monatsende in dieser Gegend, böse zu gucken, fällt mir auch nicht ein und ich gehe weiter. Bald habe ich meinen Rhythmus gefunden und ich klopfe mir innerlich auf die Schulter, weil ich so ein eifriger Sportler bin. Natürlich sieht mir das mit meiner verschlissenen Jeans und meinem faltigen Freizeithemd niemand an, aber das ist ja auch das schöne am Walken, man kann ganz inkognito Sport treiben.
Im Stadion in der Hauptstraße scheint irgendwas los zu sein, ich sehe schon von weitem einige Leute dahin gehen. Soll mich nicht berühren, ich laufe konzentriert weiter geradeaus. Dabei hasse ich es wenn Menschen meinen Weg kreuzen, zum Beispiel vor mir auf den Gehweg treten, weil ich sie dann überholen muss. So auch ein Ehepaar mit einem schon fast erwachsenem Sohn meiner Größe, der aber noch deutlich mehr Gewicht auf die Waage bringt. Ich stelle mir kurz vor wie ich den Sohn frage, ob er nicht mit mir zusammen walken will und wir nach Monaten hartem Trainings dann die neuen Fitnessstars bei Instagram sind. Aber die drei laufen recht schnell und biegen dann in einen Friedhof ein. Klar, Sonntag, da besucht man schon mal verflossene Familienmitglieder. Ich finde es toll das der Sohn da mitgenommen wird, es scheint also noch recht funktionierende Familien zu geben. Schritt für Schritt gehe ich weiter.
Dann die Schicksalskreuzung, an der ich je nach Fitnesslevel und -gefühl wieder umkehre oder geradeaus noch drei extra Kilometer mache. Ich entscheide mich fürs weitergehen, ich bin heute fit. Am Ende der Kreuzung befindet sich eine zwielichtige Bar und zwei Typen mit Bier in der Hand, die sehr nach Speed aussehen, stehen davor. Ich trinke ja nun auch gern, würde aber erstens nie Berliner Kindl, das Bier der Prolls, sondern Berliner Pilsener und zweitens nie in der Öffentlichkeit vor einer Kneipe trinken. Wegbier in der Straßenbahn oder Gelage auf der Parkbank, klar, schon oft praktiziert. Aber vor einer Bar? Liegt vielleicht auch daran das mir aufgrund von langjähriger Armut Kneipen und Bars generell suspekt geworden sind. Dankenswerterweise kümmern sich die beiden nicht um mich, solche Typen quatschen einen gerne mal voll, besonders wenn die Nase weiss ist.
Es begegnet mir noch ein migrantisches Pärchen, der Mann läuft voraus, die Kopftuch-Frau mit Kinderwagen ein paar Meter hinterher, zwei kleine Kinder noch zwischendrin. Weder sind sie von mir beeindruckt noch ich von ihnen, man geht halt spazieren. Dann komme ich bei der zweiten Kreuzung , meinem endgültigen Wendepunkt, an. Ich laufe an einem McDonalds vorbei und erinnere mich, wie ich dort mit Kumpels in jungen Jahren zehn Minuten brauchte, um in meinem vollgekifften Hirn zu kapieren, das man bei McDonalds keine BurgerKing-Burger bekommt. Auf der Mittelinsel der Kreuzung dann eine Joggerin, die aufgrund der roten Fußgängerampel eindringlich ihre Erschöpfung zur Schau stellt und sich Luft verschafft. Ich überlege kurz ob ich etwas anerkennendes sage. „Ich mache auch grad Sport, bin aber noch nicht so fit wie Sie!“, oder so. Ich verkneife es mir und mache mich auf den Rückweg. Verdammt, ich vermisse die Kilometer-Ansagen der Fitness-App, auch ist sie genauer als mein Armband, was wiedermal fast einen Kilometer in der Zusammenfassung unterschlagen soll. Aber es ist wie es ist, ich muss mich mit dem Hardrock aus den Kopfhörern begnügen. Ich treffe das migrantische Pärchen auf dem Rückweg wieder, wir sind immernoch völlig unbeeindruckt voneinander. Ich bin aber zunehmend mit mir und meiner Erschöpfung beschäftigt und nehme meine Umwelt nicht mehr sehr bewusst wahr. Weder der restliche Rückweg noch das Hochhaus mit Fahrstuhl halten dann noch irgendwelche Überraschungen bereit, ich bin froh das mich so verschwitzt und sicher stinkend niemand sieht. Schnell noch mit dem etwas ungenauen Messergebnis meines Fitnessarmbands auf Facebook angeben, dann habe ich mir ein Glas Wasser und die erlösende Dusche wirklich verdient. Scheiss Sport.
... link (0 Kommentare) ... comment